I. Leitfaden für die öffentliche Diskussion über Menschenrechte und Biomedizin
Die Fortschritte im Bereich der Biomedizin versprechen erhebliche Nutzen für den einzelnen Menschen, die Gesellschaft als Ganzes und die künftigen Generationen. Das Streben nach solchen Nutzen ist jedoch oft mit grossen ethischen und sozialen Herausforderungen verbunden. Diese Herausforderungen können im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Unsicherheiten und Wertespannungen stehen, vor deren Hintergrund Entscheidungen mit möglicherweise weitreichenden Auswirkungen getroffen werden. Viele biomedizinische Entwicklungen bergen Potenzial für tiefgreifende Veränderungen im sozialen und wirtschaftlichen Umfeld. Sie können zu einer Infragestellung und möglichen Neugestaltung der geltenden Alltagsnormen führen. Deshalb sind die Entwicklungsrichtungen in der Biomedizin und die Art und Weise, wie die möglichen Risiken und Nutzen verteilt werden, von grossem öffentlichen Interesse.
Der Ausschuss für Bioethik des Europarates (DH-BIO) hat vorliegenden Leitfaden erarbeitet, um die Mitgliedstaaten bei der Förderung der öffentlichen Diskussion in diesem Bereich zu unterstützen. Er soll denjenigen als Orientierungshilfe dienen, die die öffentliche Diskussion In diesem Dokument und in Artikel 28 des Übereinkommens von Oviedo beschreibt der Überbegriff «öffentliche Diskussion» den diskursiven Austausch im öffentlichen Raum (ausserhalb des berufsbezogenen Kontextes), der es Einzelpersonen und Gruppen ermöglicht, unterschiedliche Interessen in Bereichen, die uns (potenziell) alle betreffen, auszumachen, zu erörtern und miteinander in Einklang zu bringen anregen oder unterstützen, und diejenigen leiten, die auf eine solche Diskussion mittels politischer Massnahmen reagieren. Dazu gehören die politischen Entscheidungsträger in den Mitgliedstaaten, die Vertreter des Staates und die Behörden, die nationalen Ethikkomitees, die Erziehungseinrichtungen und Hochschulen sowie andere in diesem Zusammenhang relevante Organisationen.
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Vorliegender Leitfaden dient nicht nur der Förderung einer öffentlichen Diskussionskultur, sondern beschreibt auch, warum die öffentliche Diskussion für die Gouvernance In diesem Leitfaden bezieht sich «Governance» auf den verantwortungsvollen Umgang mit Macht oder Befugnissen, mit dem Ziel, Normen und Verhaltensweisen innerhalb von Systemen oder Organisationen festzulegen, zu überwachen und durchzusetzen. Es kann sowohl darum gehen, das Verhalten der Menschen zu lenken sowie auch darum, sicherzustellen, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden. Die Governance kann durch verbindliche und nicht verbindliche Massnahmen (gesetzliche Bestimmungen, Zertifizierungen, Berufsstandards, Verhaltenskodizes, Empfehlungen usw.) zum Tragen gebracht werden. Bei den Governance-Akteuren kann es sich um Akteure aus dem öffentlichen sowie dem privaten Sektor handeln. in der Biomedizin wichtig ist und trägt dazu bei, im Zusammenhang mit den jeweiligen Fragen und Umständen wirksame und angemessene Vorgehensweisen zu erarbeiten. Er soll in erster Linie zu einer vertieften Reflexion über die Gründe, Ziele, Teilnehmenden und Formen der öffentlichen Diskussion anregen und dabei einige Vorschläge liefern und Beispiele aufzeigen. Er ist nicht als Handbuch für die öffentliche Diskussion gedacht, sondern vielmehr als Anleitung, um die öffentliche Diskussion dergestalt anzugehen, dass sie für alle Beteiligten und letztlich für die breite Öffentlichkeit von Nutzen ist.
Der in diesem Leitfaden verwendete Überbegriff «öffentliche Diskussion» beschreibt die diskursiven Interaktionen im öffentlichen Raum Der Raum, in dem die öffentliche Diskussion stattfindet; eine theoretische Kommunikationsumgebung, in der Privatpersonen gemeinsam gesellschaftliche Fragen, die sie alle betreffen und die einen Einfluss auf die Politik haben, formulieren und diskutieren können. In der Praxis kann der öffentliche Raum durch Institutionen (beispielsweise soziale und politische Institutionen) und durch die Medien getragen werden., im Rahmen derer sowohl Einzelpersonen wie auch Gruppen ihre unterschiedlichen Interessen in Bereichen, die uns potenziell alle betreffen, ausmachen, erörtern und miteinander in Einklang bringen können. Die «Diskussion» ist als kontinuierlicher Prozess zu verstehen, mit dessen Ergebnis nicht zwingend alle einverstanden sein müssen.
Es gibt zahlreiche Instrumente und Ansätze, die aus der sozialwissenschaftlichen Forschung stammen oder die im Rahmen der praktischen Gestaltung politischer Massnahmen abgeleitet werden. All diese Instrumente und Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile, die Gegenstand einer umfangreichen und wachsenden Anzahl von wissenschaftlichen Publikationen sind. Viele davon werden durch die in diesem Leitfaden vorgestellten Beispiele veranschaulicht und in den am Schluss des Dokuments aufgeführten «Ausgewählten Quellen» genauer beschrieben.
Ziel des Übereinkommens des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin (genannt «Übereinkommen von Oviedo») ist die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Bereichen der Biomedizin und der medizinischen Praxis. Artikel 28 des Übereinkommens verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihren Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, ihren Ansichten im Bereich der Biomedizin Gehör zu verschaffen. Der Artikel besagt Folgendes:
"Die Vertragsparteien dieses Übereinkommens sorgen dafür, dass die durch die Entwicklungen in Biologie und Medizin aufgeworfenen Grundsatzfragen, insbesondere in Bezug auf ihre medizinischen, sozialen, wirtschaftlichen, ethischen und rechtlichen Auswirkungen, öffentlich diskutiert werden und zu ihren möglichen Anwendungen angemessene Konsultationen stattfinden."
Die Förderung der öffentlichen Diskussion im Lichte von Artikel 28 des Übereinkommens von Oviedo hat zum Ziel:
die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, insbesondere durch die Förderung der Verbreitung von Informationen, Meinungen und Standpunkten;
den Dialog zwischen den verschiedenen Akteuren, Gruppen und Einzelpersonen, einschliesslich vulnerabler oder benachteiligter Personen, im öffentlichen Raum zu fördern;
die Öffentlichkeit, einschliesslich Zielgruppen, zu konsultieren und dabei deren Interessen und Auffassung bezüglich der jeweiligen Thematik zu berücksichtigen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können.