DW, 14/12/2020
Das Dayton-Abkommen enthält wichtige Elemente zum Aufbau einer Gesellschaft auf Basis von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Durchsetzen müssen diese die Bürger und Institutionen des Landes.
Der Abschluss des Friedensabkommens von Dayton vor 25 Jahren löste in Bosnien und Herzegowina große Erleichterung aus. Er beendete eines der blutigsten und abscheulichsten Kapitel in der neueren Geschichte Europas. Dank "Dayton" konnte eine Generation von Bosnierinnen und Bosniern aufwachsen, ohne sich in Bunkern verstecken oder Angst haben zu müssen, beim Anstehen für Wasser erschossen zu werden.
Abseits dessen aber gibt es wenig Grund zum Jubeln. 25 Jahre nach Dayton steckt Bosnien noch immer in tiefen strukturellen und funktionalen Problemen. Die Verfassung, die das Land zusammen mit dem Friedensabkommen erhielt, führt zu einem komplexen und teuren administrativen und politischen System; der übermäßige Schutz der Interessen einzelner ethnischer Gruppen und Mechanismen, die es nationalistischen Politikern ermöglichen, ihr Veto gegen wichtige Entscheidungen einzulegen, die dem Land helfen könnten, sich weiterzuentwickeln, führen zudem immer wieder zu Blockaden.
Dafür das Abkommen verantwortlich zu machen, würde jedoch von weit tiefer liegenden Problemen ablenken. Richtig, in Dayton wurde ein komplexes System geschaffen, das reformiert werden muss - aber Bosnien ist nicht das einzige Land mit komplexen Institutionen. Viel schwerer wiegt, dass der Geist der Konkordanzdemokratie, für die der Friedensvertrag steht, von verschiedenen politischen Akteuren zur Befriedigung ihrer jeweiligen Einzelinteressen missbraucht wird.
Darüber hinaus enthält das Abkommen aber auch wichtige Elemente zum Aufbau einer Gesellschaft, die auf der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit beruht - einschließlich der direkten Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention und deren Priorität vor allen anderen Gesetzen, einem Verfassungsstatus für Menschenrechte und Menschenrechtsinstitutionen, die einige wegweisende Entscheidungen zum Schutz der Rechte von Rückkehrern und Minderheiten getroffen haben.
Diskriminierendes Wahlrecht
Was ein Prosperieren Bosniens wirklich verhindert hat, ist eine tief verwurzelte Vorstellung von Politik, die schon lange bestehende ethnische Ressentiments zur Aufrechterhaltung der eigenen Macht ausnutzt und von einem diskriminierenden Status quo profitiert. Bezeichnend dafür ist das bosnische Wahlsystem.
2009 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im "Fall Sejdić und Finci gegen Bosnien und Herzegowina", das Wahlrecht des Landes sei diskriminierend, da es alle Personen von der Wahl zur Präsidentschaft und der zum "Völkerhaus" (der zweiten Kammer des Parlaments; A. d. Red.) ausschließt, die nicht den drei "konstituierenden" ethnischen Gruppen - Bosniaken, Kroaten und Serben - angehören. Elf Jahre später ist das Urteil nach wie vor nicht umgesetzt - vor allem aufgrund mangelnden politischen Willens.
Aufarbeitung der Vergangenheit
Der gleiche Mangel behindert den Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit - und damit der Heilung von Wunden aus der Kriegszeit 1992-95, die immer noch offen sind. Kriegsverbrechen bleiben ungestraft, das Schicksal Tausender Menschen, die seit dem Krieg vermisst werden, bleibt unbekannt und auch die Wiedergutmachung für zivile Kriegsopfer kommt nur langsam voran.
Den politischen Diskurs in Bosnien prägen Revisionismus, Leugnung des Völkermords, Verherrlichung von Kriegsverbrechern sowie Versuche, die Legitimität des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien zu untergraben. Auch das Bildungssystem fördert weiterhin ethnische Unterschiede: Bosnische Kinder lernen in getrennten "Zwei-Schulen-unter-einem-Dach" oder in völlig mono-ethnischen Schulen.
Politik, Justiz, Finanzen, Armut
Diese gewaltigen Probleme erfordern eine radikale Veränderung der Art und Weise, wie Politik in Bosnien betrieben wird. Anstatt ihre institutionelle Position zur Konsolidierung persönlicher Interessen zu nutzen, müssen sich die bosnischen Politiker der Herausforderung stellen, ein einiges und prosperierendes Land aufzubauen.
Die bosnische Justiz muss viel strenger auf große Korruptionsfälle reagieren, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diese Institutionen zu stärken und die Bevölkerung dazu zu animieren, sich in einer Gesellschaft einzurichten, die auf Rechtsstaatlichkeit, ordnungsgemäßen Verfahren und der Gleichheit aller vor dem Gesetz beruht. Zudem muss an den verheerenden finanziellen Realitäten, dem extrem niedrigen Lebensstandard und den armseligen öffentlichen Dienstleistungen gearbeitet werden.
Inspiration Jugend
Dabei sollten sich Bosniens Politiker von der jüngeren Generation inspirieren lassen. Studenten in der zentralbosnischen Stadt Jajce kämpfen gegen getrennte Schulen, andere junge Bosnierinnen und Bosnier erzielen beeindruckende Ergebnisse in Sport, Wissenschaft oder humanitärer Arbeit. Hilfsorganisationen und einzelne Bürger bauen Brücken zwischen den Ethnien und arbeiten daran, das Erbe des Krieges - Spaltung und Hass - zu überwinden.
Solche Initiativen verdienen mehr Aufmerksamkeit. Die internationale Gemeinschaft, allen voran die Europäische Union und der Europarat, müssen sich einerseits für institutionelle und wirtschaftliche Reformen in Bosnien einsetzen. Zudem müssen sie Unternehmen und Grassroot-Organisationen helfen, die Inklusion fördern und Kämpfer für die Menschenrechte bei ihrem Streben nach Verantwortlichkeit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung unterstützen.
Die wichtigsten Akteure
Die wichtigsten Akteure für die Zukunft Bosniens jedoch sind die Bürgerinnen und Bürger sowie die Institutionen des Landes. Sie müssen energischer gegen die Rückkehr zum Nationalismus vorgehen, interethnische Beziehungen und Zusammenarbeit stärken und Korruption und Vetternwirtschaft bekämpfen.
Vor 25 Jahren lieferte das Friedensabkommen von Dayton die Grundlage für eine bessere Zukunft Bosnien und Herzegowinas. Jetzt ist es Sache der Bosnierinnen und Bosnier, das Ruder zu übernehmen und das Land vorwärts zu steuern.
Dunja Mijatović, geboren und aufgewachsen in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo, ist die Menschenrechtskommissarin des Europarats.