Die zunehmende Polarisierung und die wachsende Gefährdung der grundlegenden Prinzipien Europas werden in Kombination mit der weltweiten Coronavirus-Pandemie voraussichtlich zu der schwierigsten Phase seit vielen Jahren führen, so der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). In einer Rede auf der Jahrespressekonferenz in Straßburg erklärte EGMR-Präsident Robert Spano, dass die Demokratie, die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtsstaatlichkeit sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene zunehmend infrage gestellt werden.
Er fügte hinzu, dass die anhaltende Pandemie bereits eine Reihe wichtiger Menschenrechtsfragen aufgeworfen hat, darunter die Verhältnismäßigkeit der von den Mitgliedsstaaten des Europarates ergriffenen Maßnahmen, die Rechtsgrundlage dieser Maßnahmen und die Anwendung innerstaatlicher Verfahren, um Handlungen oder Unterlassungen zu sanktionieren. Präsident Spano unterstrich, dass der EGMR trotz der Pandemie in der Lage war, seine Tätigkeit fortzusetzen, 2020 in über 39.190 Fällen Entscheidungen getroffen und zum ersten Mal online öffentliche Anhörungen abgehalten hat.
Gleichwohl sind Ende 2020 noch etwa 62.000 Beschwerden vor dem EGMR anhängig. 70 % dieser Beschwerden beziehen sich auf lediglich vier Mitgliedsstaaten des Europarates – Russland (13.650), Türkei (11.750), Ukraine (10.400) und Rumänien (7.550). Präsident Spano hob den Erfolg der geänderten Arbeitsverfahren des EGMR bei der Verringerung des Rückstands bei den anhängigen Fällen hervor und erklärte, dass die Richtlinien des Gerichtshofs zur vorrangigen Behandlung bestimmter Fälle weiter gestärkt würden, um zu einer weiteren Verringerung der Bearbeitungszeiten beizutragen. Der Präsident betonte außerdem die verbindliche und eindeutige Verpflichtung jedes Mitgliedsstaats des Europarates zur Umsetzung der EGMR-Urteile, die wesentlich für das System und aus rechtlicher Sicht „glasklar“ ist.
Rede von EGMR-Präsident Robert Spano [EN/FR]
Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EN]