In einem Dringlichkeitsgutachten empfiehlt die Venedig-Kommission den polnischen Behörden, das „Gesetz über den staatlichen Ausschuss zur Untersuchung russischer Einflussnahme auf die innere Sicherheit der Republik Polen im Zeitraum 2007 bis 2022“ umgehend aufzuheben, um zu verhindern, dass es die Wettbewerbsgleichheit im Zusammenhang mit den für den Herbst geplanten Wahlen beeinträchtigt.
Das vom Sejm verabschiedete und vom polnischen Präsidenten unterzeichnete Gesetz ist am 31. Mai 2023 in Kraft getreten. Die aufgrund des Gesetzes eingerichtete staatliche Kommission ist dazu befugt, die Tätigkeit von Personen, die in der Vergangenheit ein Amt bekleidet haben oder Mitglied der Geschäftsführung waren, und von anderen Personen zu untersuchen und von diversen staatlichen Einrichtungen, insbesondere Nachrichten-, Spionageabwehr- und Sicherheitsdiensten, Staatsanwaltschaft und Justizbehörden, Zugang zu Informationen – auch zu geheimen – zu verlangen. Am Ende dieser Untersuchungen kann die Kommission entscheiden, dass eine Person „unter dem Einfluss der Russischen Föderation zulasten der Interessen Polens“ agiert hat und „korrigierende Maßnahmen“ anwenden. Ebenso kann sie erklären, dass eine Verwaltungsentscheidung „unter dem Einfluss der Russischen Föderation zulasten der Interessen Polens“ getroffen wurde, sie darum aufheben und an die Behörde, an die die Angelegenheit zur erneuten Prüfung verwiesen wird, Rechtsauffassungen und -hinweise richten.
Infolge der starken Kritik an dem Gesetz, die auf nationaler Ebene und in der internationalen Gemeinschaft laut wurde, legte der polnische Präsident am 2. Juni 2023 einen Änderungsentwurf vor, der insbesondere das Streichen der „korrigierenden Maßnahmen“ vorsah.
Die Venedig-Kommission erkennt zwar an, dass Initiativen gegen unzulässige Einflussnahme aus dem Ausland legitim sind, vertritt aber gleich zu Beginn den Standpunkt, dass der Bedarf an einem derartigen Gesetz und umso mehr die Notwendigkeit seines rückwirkenden Charakters nicht gegeben seien. Möglicherweise problematisches Verhalten in der Vergangenheit könne strafrechtlich oder durch eine parlamentarische Untersuchungskommission behandelt werden, gegebenenfalls auf der Grundlage von Informationen, die von den Sicherheitsdiensten geliefert werden. Die Tatsache, dass sich die Befugnis der staatlichen Kommission nicht auf Ereignisse erstreckt, die ab 2023 stattfanden (ungeachtet des Andauerns des Angriffskriegs der Russischen Föderation gegen die Ukraine), wirft ebenfalls ernste Zweifel an der Notwendigkeit eines neuen Mechanismus auf.
Besonders beunruhigt ist die Venedig-Kommission über den übermäßig breiten Geltungsbereich des Gesetzes und die zu wenig klare Formulierung seiner grundlegenden Begriffe. Das Gesetz kann zum Verstoß gegen zahlreiche verfahrensrechtliche und materielle Menschenrechte führen und zudem im Widerspruch zu den Grundsätzen der Rechtssicherheit, der Gewaltenteilung und der gegenseitigen Kontrolle stehen.
Die Venedig-Kommission kommt zu dem Schluss, dass das Gesetz das Potenzial hat, die Wettbewerbsgleichheit im Zusammenhang mit den kommenden Wahlen zu gefährden, und leicht zu einem Werkzeug in den Händen der Mehrheit werden könnte, um politische Gegner auszuschalten, insbesondere angesichts dessen, dass ein Kandidat für die Wahl einer Untersuchung der staatlichen Kommission unterzogen, durch dieses Verfahren und die Entscheidung der staatlichen Kommission stigmatisiert werden und ihm sogar das passive Wahlrecht zehn Jahre lang entzogen werden könnte.