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Generalsekretär ruft in Rede vor Parlamentarischer Versammlung zur Stärkung von Demokratie und Dialog auf

Rede von Alain Berset, Generalsekretär des Europarates

 

Sehr geehrter Herr Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates,

sehr geehrte Frau Generalsekretärin der Parlamentarischen Versammlung,

sehr geehrter Herr Stellvertretender Generalsekretär des Europarates,

Exzellenzen,

sehr geehrte Damen und Herren Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung!

 

EINLEITUNG

Diese Woche gedenken wir des 80. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Und wir erinnern uns an die dunkelsten Jahre unserer gemeinsamen europäischen Geschichte.

In diesem Jahr begehen wir aber auch den 75. Jahrestag der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und damit gedenken wir einer der größten Errungenschaften Europas.

Diese Anlässe sind eine besondere Gelegenheit, um in den Spiegel der Geschichte zu schauen, um uns so zu sehen, wie wir sind, um zu sehen, was wir waren und was wir geworden sind.
Um gemeinsam zu prüfen, wohin wir gehen möchten.

Wenn ich mich also heute Nachmittag an Sie wende, möchte ich damit beginnen, Ihnen von den Menschen zu erzählen, die auf unserem Kontinent leben. Ich möchte Ihnen von ihren Lebensumständen und vor allem von ihren Erwartungen berichten.

 

FESTSTELLUNG I: JAHIDNE

Dafür muss man sich öfter außerhalb Straßburgs aufhalten.
Man muss sich vor Ort begeben. Nach Jahidne zum Beispiel, ein Dorf, das zwei Autostunden nördlich von Kiew liegt, nicht weit von Tschernihiw entfernt.

Ich werde nie die kleine Treppe vergessen, die in den Keller der Dorfschule hinunterführt. Hier haben russische Soldaten im März 2022 300 Einwohner – darunter Kinder, Schwangere und alte Menschen – 27 Tage lang zusammengepfercht.

Wenn man diese Treppe hinabgeht, ist es, als würde man in eine andere Welt eintreten. Die Menschen, die dort waren, erzählen uns von ihrem Martyrium.

  • Kein Strom.
  • Keine Heizung.
  • Nicht einmal ein Platz zum Sitzen.
  • Keine Luft.

Viele sind erstickt und wurden auf dem Boden unter den Lebenden zurückgelassen. Ihre Namen bedecken die Wände des Kellers. Und die Überlebenden berichten uns, dass trotz der Kälte draußen im Inneren eine entsetzliche Hitze herrschte.

Entsetzlich. Es gibt keine anderen Worte, um das Leid zu beschreiben, das die Ukrainerinnen und Ukrainer in den letzten drei langen Jahren erdulden mussten. Oradour-sur-Glane. Srebrenica. Jahidne. Das sind Namen, die uns zwingen, uns selbst ins Gesicht zu schauen. Und da wir unsere gemeinsame Geschichte kennen, sind dies Gründe für unser Engagement für die Ukraine.

 

FESTSTELLUNG II:

DEMOKRATIE IN GEFAHR

Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Erwartungen in der Ukraine sind sehr hoch. Sie sind überall auf unserem Kontinent hoch. Der Mangel an Fortschritt und Bereitschaft, sich zu einigen, führen zu einem Verlust an Vertrauen in die Institutionen und ihre Vertreter. Dadurch wird die gesamte Demokratie infrage gestellt.

Auf ihrem Treffen in Reykjavík 2023 erinnerten die Staats- und Regierungschefs unserer Mitgliedsstaaten daran, dass die Demokratie „das einzige Mittel ist, um sicherzustellen, dass jeder Mensch in einer friedlichen, wohlhabenden und freien Gesellschaft leben kann“. Dennoch ist es eine Tatsache: Wir erleben überall einen demokratischen Rückschritt.

Was uns Sorgen bereitet, sind die Gründe für diesen Rückschritt:

  • Weniger Raum für die Zivilgesellschaft und die offene öffentliche Debatte.
  • Oppositionelle, die mundtot gemacht werden.
  • Gerichte und unabhängige Medien unter Druck.
  • Ein Anstieg populistischer Diskurse.

In diesem Kontext sind einige Fakten zu betrachten. Zum Beispiel:
Ein Fünftel der Briten unter 45 Jahren glaubt, dass das beste System, um ein Land effektiv zu führen, – ich zitiere – „ein starker Führer, der sich nicht um Wahlen kümmern muss“, ist.

Eine starker Führer, der sich nicht um Wahlen kümmern muss. Dies geht natürlich über das Vereinigte Königreich und Europa hinaus.

Die Jüngeren scheinen am meisten desillusioniert zu sein. Was bedeutet das für die Zukunft unseres Kontinents? Doch bevor wir urteilen, sollten wir uns daran erinnern, dass die Jugend für viele von ihnen geprägt war von:

  • der Klimakatastrophe,
  • der Coronavirus-Pandemie
  • und dem Krieg in der Ukraine.

Erinnern wir uns daran, dass die letzten 15 Jahre geprägt waren von:

  • den tiefgreifenden Folgen der Finanzkrise von 2008,
  • der Zunahme von Ungleichheit und populistischer Rhetorik,
  • der Suche nach Sündenböcken
  • und dem diffusen Gefühl, dass ein demokratischer Rahmen offensichtlich nicht ausreicht, um Perspektiven für sich selbst, seine Angehörigen und sein Umfeld zu schaffen.

Für die jüngeren Generationen, die die optimistische, fast naive Zeit der 1990er- und 2000er-Jahre nicht erlebt haben, haben sich diese vielfältigen Krisen als die Bezugswelt festgesetzt.

 

FESTSTELLUNG III:

DIE GEFAHR DER DESINFORMATION

In diesem Kontext, der durch die Krisen und ihre Folgen schwer lesbar geworden ist, müssen wir uns zusätzlich mit der beeindruckenden Geschwindigkeit der Entwicklung neuer technischer Möglichkeiten, insbesondere der künstlichen Intelligenz, auseinandersetzen.

In Davos, wo ich letzte Woche war, hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, sie als unreguliert bezeichnet. Wenn man zusätzlich noch an Cyberangriffe, Deepfakes und Desinformationskampagnen denkt, erkennt man das Ausmaß der Bedrohung für die Demokratie.

Dann wird alles möglich. Zum Beispiel in einer Debatte zu behaupten, Hitler sei ein Kommunist gewesen, und damit die Geschichte aufs Gröbste zu verfälschen. Orwell hätte von „Doppeldenk“ gesprochen.

Zum Affront kommt also noch ein gefährlicher Revisionismus hinzu. Umso mehr, als diese Umschreibung der Geschichte mit dem 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zusammenfällt.

Meine Damen und Herren!

Dies sind große Probleme. Aber wir haben die Mittel, um sie zu bewältigen.

 

WERTE:

UNSER LEUCHTTURM IN DER NACHT

Wenn wir das Gefühl haben, die Orientierung zu verlieren, müssen wir immer wieder zu den Werten zurückkehren. Die Werte, die uns vereinen, die Werte, die das Fundament unserer Organisation bilden. Wir dürfen nie vergessen, warum der Europarat existiert.

Er existiert, weil nach einem Weltkrieg, der unermessliches Leid verursacht und die Menschheit zurückgeworfen hat, jene, die uns vorangegangen sind, gehandelt haben. Damit die Welt und die Funktionsweise der Gesellschaften auf Folgendem beruhen:

  • demokratischen Entscheidungen,
  • berechenbaren, rechtsbasierten Beziehungen
  • und auf dem Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte.

Diese Werte leiten unser Handeln. Sie sind unser Leuchtturm in der Nacht.

 

DIE METHODE:

DIALOG, BEISPIEL GEORGIEN

Aus folgenden Gründen bin ich davon überzeugt, dass der Dialog von entscheidender Bedeutung ist. Der echte Dialog. Der, der alle Akteure einbezieht.

Weil der Dialog:

  • ein Austausch ist.
  • eine Gegenüberstellung von Argumenten ist.
  • eine Debatte ist.

Im Grunde ist es die Suche nach dem, was an der Position des anderen richtig ist und mir ermöglichen kann, meine Sicht der Dinge zu verbessern – was mir erlaubt, zu sagen, dass ich nicht einverstanden bin, und zu erklären, warum.

Dadurch kann ich versuchen, zu überzeugen.

Schwierigkeiten und Spannungen sollten uns nicht bremsen oder uns Angst machen. Ganz im Gegenteil.
Gerade wenn Spannungen bestehen und die Dinge schwierig sind, ist der Dialog am wichtigsten. In guten Zeiten ist er nicht so notwendig, nicht so heilsam.

Wenn die Schwierigkeiten sich häufen, müssen die Kontakte intensiviert werden. Nicht, indem man sich auf Sozialen Netzwerken oder im Rahmen von im Internet veröffentlichten Stellungnahmen Postings an den Kopf wirft. Nein, sondern indem man zuerst an einem Tisch Klartext redet.

Am Anfang aller Kriege steht zunächst – nicht nur, aber zuerst – ein Mangel an Dialog.

Außerdem sollte man die Dinge immer so darstellen, wie sie sind. Dies sollte mit Ehrlichkeit und Objektivität geschehen.

Mit dieser Geisteshaltung bin ich im vergangenen Dezember nach Georgien gereist, mit einer großen Delegation des Sekretariats. Mit dieser Geisteshaltung sind Ihre Berichterstatter in den vergangenen Wochen dorthin gereist. Mit dieser Geisteshaltung ist der Menschenrechtskommissar in den vergangenen Tagen dorthin gereist.

Durch meinen Besuch in Tiflis im vergangenen Dezember konnten wir Ergebnisse erzielen:

  • Die Freilassung inhaftierter Demonstrierender.
  • Die Verpflichtung, von unverhältnismäßiger Gewaltanwendung Abstand zu nehmen.
  • Die Gewährleistung unabhängiger, transparenter und wirksamer Ermittlungen bei Anschuldigungen wegen Polizeigewalt.
  • Die Einsetzung einer gemischten Arbeitsgruppe mit Sachverständigen des Europarates, um das Gesetz über die sogenannte „ausländische Einflussnahme“ grundlegend zu ändern.

 

2025: SCHLÜSSELJAHR IN DER UKRAINE

Meine Damen und Herren!

Wir beginnen ein neues Jahr.

Im Jahr 2025 wird die Ukraine ganz oben auf unserer Prioritätenliste stehen.

Wir verpflichten uns, alles zu tun, um die Schadenskommission und einen Entschädigungsmechanismus einzurichten, die auf dem Erfolg des Schadensregisters für die Ukraine aufbauen. Der Europarat muss dabei eine führende Rolle spielen.
Die Erwartungen sind hoch. Wir müssen es unverzüglich tun.

Dasselbe gilt für die Einrichtung des Sondergerichtshofs für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine. Denn wenn der Wiederaufbau des Landes finanzielle Ressourcen zur Behebung der Schäden erfordert, dann erfordert er auch Gerechtigkeit zur Wiederaufrichtung des Geists.

Die Verpflichtung und die Rolle des Europarates bestehen darin, dafür zu sorgen, dass die Straflosigkeit nicht die Oberhand gewinnt.

Für die Ukraine habe ich außerdem eine Task Force innerhalb des Europarates eingerichtet, um die größtmögliche Wirksamkeit unserer Maßnahmen zu gewährleisten.
Ich habe auch die Ernennung eines Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für die Kinder der Ukraine angekündigt. Die Ernennung wird demnächst erfolgen.

 

DIE EXTERNE DIMENSION EUROPAS

Meine Damen und Herren!

In diesem äußerst instabilen multilateralen Kontext,
in dieser Welt, in der ein beispielloses Maß an Straflosigkeit herrscht, kennen die größten Herausforderungen, denen wir heute gegenüberstehen, keine Grenzen.
Die einzige wirksame Antwort liegt im Multilateralismus und der Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen. Daher die Einrichtung unseres Büros in New York. Ich erwähne es hier, weil ich weiß, dass über dieses Thema in Ihrer Versammlung viel debattiert wurde.

Unsere Welt ist in ständiger Bewegung.
Unsere Vision muss über die Grenzen unseres Kontinents hinausgehen. Unter den jüngsten Ereignissen genügt es, an Syrien zu denken. Durch den Sturz des Regimes von Baschar al-Assad wurden die Karten neu gemischt und die geopolitischen Gleichgewichte neu definiert. Diese Situation bringt die Türkei, ein Mitglied des Europarates, in eine entscheidende strategische Position. Dies ist nur ein Beispiel von vielen.

Wir müssen unseren Blick auf den Mittelmeerraum, Afrika, die BRICS-Mitglieder und darüber hinaus richten. Wir sollten uns daran erinnern, dass ein starkes Europa nur dann stark ist, wenn es sowohl nach innen als auch nach außen stark ist.

 

AKTIONSPLAN FÜR DIE DEMOKRATIE

Meine Damen und Herren!

Das Europa von morgen aufzubauen, bedeutet schließlich und vor allem, der Demokratie wieder ihren richtigen Platz zu geben.

  • Es bedeutet, freie und faire Wahlen zu garantieren.
  • Es bedeutet, die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz zu schützen.
  • Es bedeutet, die freie Meinungsäußerung zu verteidigen.
  • Es bedeutet, die volle und gleichberechtigte Beteiligung aller am öffentlichen Leben zu gewährleisten.

Deshalb haben wir einen Aktionsplan für die Demokratie erdacht. Wir stehen erst am Anfang. Die Parlamentarische Versammlung muss dabei eine maßgebliche Rolle spielen. Ebenso wie die Grundsätze von Reykjavík. Der demokratische Rückschritt ist kein unabwendbares Schicksal.

 

FAZIT

Ein großer französischer Autor und Literaturnobelpreisträger, Albert Camus, erinnert uns am Ende von Die Pest daran, dass der Pestbazillus nie wirklich verschwindet und wir immer wachsam bleiben müssen.

In weniger als einem Monat wird der Krieg in der Ukraine in sein viertes Jahr gehen.

Währenddessen erleben wir auf unserem Kontinent und in der Welt:

  • einen Rückschritt der Demokratie,
  • einen Verlust von Orientierungspunkten,
  • eine Erlahmung des Dialogs,
  • eine Neudefinition der geopolitischen Gleichgewichte,
  • eine explosionsartige technologische Entwicklung,
  • die Verbreitung von Fehl- und Desinformation.

 

AUFRUF ZUM HANDELN

Wir müssen also wachsam gegenüber diesen spannungsgeladenen Bewegungen bleiben, die zur Zersplitterung der Gesellschaft beitragen.

Das kollektive Vergessen, von dem Camus sprach, muss einem echten Kollektivsinn Platz machen. Dieser Kollektivsinn muss jede Handlung, jede Entscheidung leiten. Das ist unsere Aufgabe. Das ist unsere ständige Pflicht.

Generalsekretär STRAẞBURG 28. Januar 2025
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