„Seit der Ausrufung des Ausnahmezustands am 25. Juli 2021 vereint der tunesische Präsident in seinen Händen die Legislative, die Exekutive und zum Teil die Judikative. In Tunesien gibt es kein Verfassungsgericht. Das Land steht einer tiefen Krise gegenüber, die einerseits durch die Schwierigkeiten bei der Pandemiebekämpfung und andererseits durch die eingeschränkte Funktionsfähigkeit der staatlichen Einrichtungen und das hohe Ausmaß der Korruption bedingt ist. Ein großer Teil der Bevölkerung Tunesiens hat zum Ausdruck gebracht, dass diese Situation nicht länger hinnehmbar ist, und eine rasche Lösung gefordert. Diese legitimen und grundlegenden Forderungen der tunesischen Bevölkerung unterstütze ich nachdrücklich.
Seit der Revolution 2011 begleitet die Venedig-Kommission Tunesien bei der Suche nach einem Neubeginn, ausgehend von der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung. Die neue Verfassung wurde zur Gänze von der demokratisch gewählten verfassungsgebenden Nationalversammlung ausgearbeitet und fast einstimmig von deren Mitgliedern verabschiedet. Es ist nicht akzeptabel, dass das Geschwür der Korruption und die Unfähigkeit einiger Amtsträger, ihre Parteizugehörigkeit und ihre Privatinteressen zugunsten des Gemeinwohls zurückzustellen, diese Anstrengungen und den beispielhaften und gewaltfreien Übergang zur Demokratie behindern. Verfassungsrechtliche Garantien dürfen nicht als Schild für Kriminelle dienen.
Ich bin indes davon überzeugt, dass ein wirksamer Kampf gegen Korruption mit der Achtung von Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit einhergehen muss. Das eine kann ohne das andere nicht bestehen und umgekehrt. Die Versuchung, einen kürzeren Weg einzuschlagen, um rascher Ergebnisse zu erzielen, ist stark und verständlich. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass jede demokratische und nachhaltige Reform die Achtung der Verfassung, der Vorrechte demokratischer Einrichtungen und der Garantien zum Schutz der Grundrechte des Einzelnen – einschließlich jener, die unter Korruptionsverdacht stehen – vor willkürlicher Einmischung voraussetzt. Ich bin überzeugt, dass die großen Probleme, vor denen die Bevölkerung Tunesiens heute steht, innerhalb der demokratischen Parameter, die in der Verfassung des Landes verankert sind, gelöst werden können und müssen. Die Venedig-Kommission, deren Vollmitglied Tunesien ist, steht zur Verfügung, um bei der Suche danach zu helfen.“