Talpis gegen Italien  | 2017

Tödlicher Angriff auf eine Frau und ihren Sohn führt zu laufenden Reformen zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt

Wir haben dem Straßburger Gerichtshof diese Beschwerde vorgelegt, weil in dem Fall dieser Frau alle Elemente wiederholter Gewalt enthalten sind: schwerwiegend und darüber hinaus vollständig unterbewertet und verkannt…

Frau Carrano, eine der Anwältinnen von Frau Talpis, Corriere della Sera - © Photo Messagero Veneto

Hintergrund

Elisaveta Talpis litt seit Jahren unter häuslicher Gewalt durch ihren alkoholkranken Ehemann. Er griff sie bei zahlreichen Gelegenheiten an und fügte ihr Verletzungen am Kopf und am Körper zu. Er versuchte auch, sie zum Geschlechtsverkehr mit seinen Freunden zu zwingen, indem er sie mit einem Messer bedrohte. Nachdem Elisaveta ins Krankenhaus gekommen war, zog sie für drei Monate in ein Frauenhaus – sie musste dieses aber wegen Platzmangel und fehlender Ressourcen wieder verlassen.

Elisaveta versuchte mehrmals, den Behörden ihre Lage zu erläutern. Sie machte eine offizielle Anzeige und bat um umgehende Hilfe, um sie und ihre Kinder zu schützen. Die Polizei tat aber monatelang nichts. Dies schuf eine Atmosphäre der Straffreiheit für weitere Gewalttaten.

Eines Abends im November 2013 kontaktierte Elisaveta erneut die Behörden wegen ihres Ehemanns. Die Polizei traf den Ehemann auf der Straße an und stellten fest, dass er betrunken war, sie erlaubten ihm aber, nach Hause zu gehen. Er ging wütend nach Hause und griff Elisaveta mit einem Messer an. Ihr 19-jähriger Sohn versuchte ihn zu stoppen. Der Ehemann stach auf den Jungen ein, der an seinen Verletzungen starb. Elisaveta erlitt ebenfalls mehrere Stichverletzungen in der Brust, als sie versuchte zu fliehen. Sie überlebte jedoch den Angriff.

Urteil des EGMR

Der Gerichtshof entschied, die Behörden hätten es versäumt, Maßnahmen zu ergreifen, um Elisaveta und ihren Sohn zu schützen, obwohl sie von der Gewalttätigkeit des Ehemannes und der Bedrohung, die er darstellte, gewusst hätten. Die Behörden hätten es auch für eine übermäßig lange Zeit versäumt, im Hinblick auf ihre Anzeigen Ermittlungen durchzuführen.

Durch das Verkennen der Schwere der häuslichen Gewalt hätten die Behörden es zugelassen, dass die Situation in einer Atmosphäre der Straffreiheit eskalierte. Diese Versäumnisse seien diskriminierend gewesen, da sie mit der Tatsache verbunden gewesen seien, dass im privaten Bereich Gewalt gegen eine Frau ausgeübt worden sei.

Die Beweise zeigten, dass eine hohe Zahl von Frauen in Italien durch ihre Lebenspartner oder ehemaligen Lebenspartner getötet würden, und dass die Gesellschaft weiterhin Taten häuslicher Gewalt toleriere.

Der Gerichtshof wiederholt, dass in Fällen häuslicher Gewalt die Rechte der Täter nicht über den Menschenrechten der Opfer stehen können … der Staat hat die positive Verpflichtung, Präventivmaßnahmen zu ergreifen, um eine Person zu schützen, deren Leben bedroht ist.

Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, März 2017

Nachbereitung

Elisaveta Talpis wurde eine Entschädigung in Höhe von 30.000 Euro zugesprochen.

2013 führte ein Gesetz Notfallbestimmungen bei geschlechtsspezifischer Gewalt ein. Nach diesen Ereignissen trat in Italien die “Istanbul-Konvention” des Europarats über Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt in Kraft.

Im Zeitraum 2015 bis 2018 wurde eine Reihe zusätzlicher Reformen durchgeführt, u.a.:

  • Gesetzliche Änderungen zur Stärkung der Rechte von Opfern häuslicher Gewalt;
  • Lebenslange Freiheitsstrafe für Mörder von Ehegatten oder Partnern;
  • Schulung der Polizeikräfte und Richter/-innen über die Bekämpfung von häuslicher Gewalt und geschlechtsspezifischer Gewalt;
  • Eine große Bandbreite öffentlicher Veranstaltungen und nationaler Kampagnen zur Aufklärung über dieses Thema;
  • Ein 24-Stunden-Nottelefon und Expertengruppen zur Unterstützung der Opfer;
  • Ein Aktionsplan zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt für 2017-2020, mit umfangreichen finanziellen Mitteln ausgestattet

Nach diesen Reformen ist die Zahl der Verurteilungen gestiegen und die Länge der Strafverfahren gesunken. Der Europarat verfolgt weiterhin das Problem der häuslichen Gewalt in Italien. Während weitere Belege für die Wirksamkeit der Reformen gesammelt werden.

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